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23.03.2010

Trier vergisst nicht

Dr. Reiner Nolden sichtet die Trierer „Judenlisten“. Personen, die in die Ghettos und Konzentrationslager in Polen deportiert wurden, wurden anschließend rot ausgestrichen.
Dr. Reiner Nolden sichtet die Trierer „Judenlisten“. Personen, die in die Ghettos und Konzentrationslager in Polen deportiert wurden, wurden anschließend rot ausgestrichen.
Moses Heimann, Berthilde Kaufmann, Josef Meyer und mehr als 600 weitere Juden aus Trier und dem Umland wurden zwischen 1941 und 1943 in den Osten deportiert. Die große Mehrheit von ihnen wurde in den NS-Vernichtungslagern ermordet. Unter dem Titel „Trier vergisst nicht“ erscheint in diesen Tagen ein Gedenkbuch, das die Einzelschicksale dieser Menschen dokumentiert.

Herausgeber des Bandes ist das Stadtarchiv. Die Rathaus Zeitung sprach mit dessen Leiter Dr. Reiner Nolden über die Entstehungsgeschichte.

RaZ: Herr Dr. Nolden, welche Quellen haben Sie für das Gedenkbuch ausgewertet?

Dr. Reiner Nolden: Wir haben sowohl Quellen aus dem Stadtarchiv als auch Nachrichten von außerhalb herangezogen. Die Namen der aus Trier deportierten Juden sind uns aus vier Lis-ten der örtlichen Polizeiverwaltung bekannt. Ab 1938 wurden die jüdischen Einwohner gesondert erfasst. Anhand der Listen lässt sich auch genau nachvollziehen, zu welchen Zeitpunkten die Züge in die Ghettos und Lager im Osten abgefahren sind. Am 16. Oktober 1941 zum Beispiel wurden 100 Personen mit dem euphemistischen Vermerk „abgewandert“ von der Liste gestrichen. An diesem Tag machte einer der ersten Deportationszüge, der deutsche Juden nach Polen verbrachte, von Luxemburg kommend in Trier Station. Aus einem vom Bundesarchiv herausgegebenen Gedenkbuch wissen wir auch, dass das Ziel dieses Zuges das Ghetto von Lodz war.

Was ist über das weitere Schicksal dieser Menschen bekannt?

In den Ghettos herrschten unerträgliche Zustände, die viele nicht überlebten. Doch im Prinzip war Lodz nur eine Zwischenstation, ähnlich wie später Theresienstadt. Aus den Gedenkbüchern des Bundesarchivs und der einzelnen Konzentrationslager ist ersichtlich, wann der Weitertransport nach Auschwitz, Chelmno, Treblinka oder Belzec erfolgte. Falls keine Gegenbeweise vorliegen, muss man davon ausgehen, dass die Juden, oft ganze Familien auf einmal, innerhalb kurzer Zeit nach ihrer Ankunft vergast wurden.

Ließ sich aus den Akten jedes Einzelschicksal lückenlos dokumentieren?

Nein. Wertvolle Ergänzungen zu den amtlichen Namenslisten lieferten die Zeugnisse der wenigen Überlebenden und Wissenschaftler, die bereits zu dem Thema geforscht haben. Immer wichtiger und ergiebiger wird die Recherche im Internet. Angelika Wilke hat in zweijähriger Arbeit alle verfügbaren Informationen zu 1 700 jüdischen Bürgern aus dem Raum Trier in einer Datenbank zusammengestellt. Manchmal ergeben sich Widersprüche. Das ist dann wie bei einem Puzzlespiel. Man muss sich für die plausibelste Lösung entscheiden.

Sie haben 1700 Personen erfasst, von denen gut 600 deportiert wurden. Was weiß man über den weiteren Lebensweg derjenigen, die diesem Schicksal entkamen?

Einige haben vor ihrem Abtransport nach Osten den Freitod gewählt. Die meisten sind aber ausgewandert, so lange das noch möglich war. Doch nur wer nach Amerika, Palästina oder England emigrierte, war auf Dauer vor dem Zugriff der Nazis sicher. In dem Transport, der im Oktober 1941 von Luxemburg nach Lodz fuhr, befanden sich zum Beispiel viele aus Trier stammende Juden, die ins vermeintlich sichere Großherzogtum geflüchtet waren.

Wie muss man sich das jüdische Leben in Trier nach 1938 vorstellen?

Die Drangsalierung wurde praktisch täglich verschärft. Das fing mit massiven Einschränkungen der Berufstätigkeit an und hörte beim Verbot von Telefon, Radio, Kino- und Theaterbesuchen auf. Juden durften nur in bestimmten Geschäften und nur zu bestimmten Zeiten einkaufen. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel war ihnen untersagt. Später wurden die Juden in wenigen „Judenhäusern“ zusammengezogen, wo sie unter extrem beengten Verhältnissen lebten. Diese Häuser waren auch die letzte Zwischenstation für Juden aus den Landgemeinden, bevor sie vom Trierer Hauptbahnhof aus deportiert wurden.

Haben sich während der Recherchen unerwartete Erkenntnisse ergeben?

Bekannt war, dass Anfang 1945 mehreren tausend Juden die Ausreise in die Schweiz erlaubt wurde. Wir haben nun entdeckt, das darunter auch zwei Jüdinnen aus dem Raum Trier waren, die so den Holocaust überlebt haben.

Das Gespräch führte Ralph Kießling